Die sanfte Wahrheit, immer anständig gekleidet, hat auf die Verehrer einen sehr netten Eindruck gemacht. Die grobe Lüge konnte sie aber nicht leiden, lockt sie zu sich: - Komm herein, bleib doch mal über Nacht. Die Wahrheit, leichtgläubig, entspannte sich bald mit Vergnügen, schlief sorglos ein und schmatzte so niedlich im Traum. Darauf gerade wartete listig die Lüge - andere solche Gelegenheit gibt es, wohl, kaum. Sie stand schnell auf, ließ die schlafende Wahrheit nackt liegen, schaute sie an, meinte: - Sie ist ja auch nur ein Weib! Wer sieht schon den Unterschied zwischen der Wahrheit und Lüge, wenn man den beiden das letzte Hemd abzieht vom Leib. Packt’ ihre Kleidung, ohne sie anzuprobieren, zieht aus dem Haar die vergoldeten Bänder heraus, klaute die Uhr, ganzes Geld und auch die Papiere, verzieht eine hässliche Fratze, verlässt dann das Haus. Erst in der Frühe vermisste die Wahrheit die Sachen. Schaute sich an - man hat sie mit Ruß ganz beschmiert. Sie konnt´ nicht verstehen, warum alle hetzten und lachen, sagte ganz leise: „Es ist doch nichts Schlimmes passiert!“ Es flogen auch Steine. Die Wahrheit versuchte sich wehren: - Lüge ist das. Sie hat meine Kleidung geklaut. Zwei netten Beamten nahmen sie fest zum Verhören, beschimpften sie nur und hatten kein Wort ihr geglaubt.         Diese Vernehmung brachte nun auch keine Klarheit. Ganz fremde Taten wurden der Wahrheit verhängt. Etwa, ein Luder gibt sich hier aus als die Wahrheit, dabei hat sie alles versoffen, verspielt und verpennt. Der nackten Wahrheit fiel’s schwer ihre Ehre zu retten. Sie irrte herum, wurde krank und hat auch kein Geld. Die schmutzige Lüge macht´ rasch eine gute Karriere, klaute ein edles Pferd, ritt davon durch die Welt.
       
Einige kämpfen auch heut’ für die Wahrheit. Frustrierend! In ihrem Geschwätz ist nicht viel von der Wahrheit mehr dran. - Die reine Wahrheit wird doch irgendwann triumphieren, wenn sie so tut, wie die Lüge es auch hat getan. Oft in der Kneipe. Du kennst nicht wer bei dir sitzt heute, weißt nicht genau, wo verbringst du danach diese Nacht. Da wirst du beraubt - dass ist die Wahrheit, ihr Leute! Schaue! Deine Uhr hat die listige Lüge und lacht. Schaue, mal! Dein Hemd trägt die schmutzige Lüge und lacht. Auf deinem Pferd sitzt die hässliche Lüge und lacht.
© Waldemar Wiesner. Übersetzung, 2013
© Aleksander Trabczynski. Vortrag, 2014